94209 Regen, Karin Rupprecht

05. Hinterfragt – Wahrheit oder Mythos: Untertreten = Versammlung

Hinterfragt! Wahrheit oder Mythos? Teil 3
Immer wieder werde ich mit der Aussage konfrontiert, dass das weite Untertreten der Hinterbeine des Pferdes für das Pferd gesund sei, ein Aufwölben des Rückens sowie Entlastung der Vorhand und letztlich Versammlung und „gute Bewegung“ mit sich bringen würde.
Ist es wirklich so einfach?
Oder ist es nicht viel komplexer „richtig“ und pferdegerecht zu reiten und zu longieren?
Das lässt sich alles mit physiologisch-anatomisch-biomechanischen Fakten erklären:
Vereinfacht gesagt: das Pferd kann entweder große Schritte mit den Hinterbeinen machen, dazu sind Hüft-/Knie- und Sprunggelenk in Aktion und werden gestreckt (Gegenteil von Hankenbeugung) oder das Pferd kann seinen Rumpf heben, seinen Rücken aufwölben, sein Becken abkippen und dadurch mit beiden Hinterbeinen näher an den Schwerpunkt herankommen im Idealfall in Verbindung mit Beugen der Hankengelenke.
Version 1 ist ein sog. Schenkelgänger, ein Pferd, das die Hinterbeine lediglich aus dem Hüftgelenk heraus bewegt und nicht „über den Rücken“ geht.
Meistens kommt der Rücken in Extension, die Kruppe wird flach, weil das Pferd genauso weit es mit dem einen Hinterbein „untertritt“ mit dem anderen Hinterbein nach hinten herausschieben muss. Gleichzeitig hängt die Bauch- und Rumpfmuskulatur durch, der Brustkorb sinkt zwischen den Schulterblättern ab, die Vorhand wird überlastet. Das Gewicht des gesamten Körpers wird größtenteils von Sehnen und Bändern gehalten. Die Gelenke der Vorder- und Hinterbeine werden maximal gestreckt, die Wucht des Aufpralls jeden Schrittes muss von den Gelenken aufgefangen werden.
Das Eil-Tempo-Laufen führt meistens zusätzlich dazu, dass die Pferde sich mit den Hinterhufen in die vorderen Ballen treten oder Ausweichbewegungen vollziehen.
Diese Art sich zu bewegen führt bei Pferden auf Dauer zu Schäden im Rücken und in den Beinen. Besonders zu erwähnen sind hierbei Verspannungen der Rückenmuskulatur, Kissing Spines, Trageerschöpfung, Fesselträgerschäden, Entzündungen im Hufrollenkomplex sowie Erkrankungen an Knie- und Sprunggelenken.
Massiv verstärkt werden die schädlichen Auswirkungen, wenn der Kopf des Pferdes zusätzlich in eine bestimmte Position (egal ob nach unten oder oben) gezwungen wird.
Auch die psychischen Schäden für das Pferd sind bei dieser Art Pferde zur Bewegung zu nötigen nicht zu unterschätzen: ein Pferd ständig zu treiben und damit aus der Balance zu bringen hat negative Auswirkungen auf das seelische Gleichgewicht des Pferdes. Als Folge dessen sind solche Pferde meist im ganzen Körper verspannt, weil sie „sich festhalten“. Es entsteht ein Teufelskreis, der das Pferd in immer mehr Verspannung bringt. Mancherorts werden diese Pferde dann endlos longiert oder geritten, bis sie scheinbar endlich losgelassen sind – diese Pferde sind dann nicht losgelassen, sie sind erschöpft. Das heißt der Pferdekörper hängt noch mehr „in den Seilen“ sprich in den Körperpartien, die nicht zum Tragen geeignet sind. Die Psyche des Pferdes leidet, weil das Pferd überfordert ist und sich unverstanden fühlt, dies kann bis zu völligem „Abschalten“ des Pferdes und in erlernte Hilflosigkeit führen.
Version 2 ist ein sog. Rückengänger, ein Pferd, das gelernt hat, seinen Rumpf zwischen den Schulterblättern zu heben, seinen Rücken aufzuwölben, sein Becken abzukippen und die Gelenke der Hinterhand zu beugen (Hankenbeugung). Die Schrittlänge wird dabei meist kürzer, weil sich das Pferd insgesamt mit beiden Hinterbeinen weiter unter seinem Schwerpunkt befindet (die Linie Hüftgelenk-Buggelenk verkürzt sich) und die Muskulatur in guter Spannung ist. Die Rumpf- und Bauchmuskulatur ist aktiv, die Vorhand ist dadurch in der Lage jeden Schritt mit der Tragemuskulatur geschmeidig abzufedern. Die Hinterbeine federn im Hüft-, Knie und Sprunggelenk, die sich wie eine Ziehharmonika zusammenziehen und wieder öffnen.
Als psychologische positive Nebenwirkungen dieser Art Pferde zu bewegen seien erwähnt: das Pferd wird selbstbewusster, motivierter, stolzer, balancierter und losgelassener.
Diese sog. Versammlung und damit gesundheitsförderndes Laufen auf der Kreislinie und unter dem Reiter muss das Pferd lernen, kein Pferd wird als Reittier geboren.
Die altklassische Ausbildung ist dafür ein guter und pferdegerechter Weg.
Erforderlich ist Zeit und Geduld sowie fundiertes Wissen in Theorie und Praxis.
Wer pferdegerecht handeln will, wird keine Abkürzungen finden und auch nicht finden wollen. Abkürzungen, Pseudolektionen und Tricks gehen immer zu Lasten des Pferdes. Nur reelle Ausbildung Schritt für Schritt bringt das Pferd zu gesundheitsfördernden Bewegungen und zu seelischer Losgelassenheit. Der Mensch ist in der Pflicht zu lernen, damit dieser sein Pferd entsprechend anleiten kann.
Fazit: Wichtig für gesundheitsförderndes Reiten/Longieren ist, dass das Pferd seinen Brustkorb hebt, sein Becken abkippt, seinen Rücken aufwölbt und die Gelenke der Hinterhand beugt. Das Pferd soll dabei konzentriert, zufrieden und mental losgelassen sein. Echte Versammlung ist ganzheitliche Versammlung: Körper, Geist und Seele sammeln sich in der gemeinsamen Aufmerksamkeit und Kraft.
Am Besten sichtbar wird dies in einer guten Piaffe: das Pferd ist maximal versammelt und im reiterlichen Sinne im Vorwärts.
(Reiterliches Vorwärts bedeutet Impulsion und damit Bereitstellung von Energie seitens des Pferdes. Vorwärts im reiterlichen Sinne hat nichts mit Geschwindikeit und/oder großen Schritten zu tun.)

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