„Der Schritt ist die Mutter aller Gangarten. Durch die Arbeit im Schritt entwickelt man die Kadenz, die Regelmäßigkeit und die Aktion und Geste der anderen Gangarten. Um aber zu solch glänzenden Resultaten zu gelangen, muss der Reiter ebenso viel Wissen und Können wie Feingefühl einsetzen.“ Francois Baucher (1796-1873)
Der Schritt ist für mich -wie für viele Pferdemenschen, die sich an altklassischen Vorbildern orientieren- die wichtigste Gangart um erstens Reitersitz und Hilfengebung zu schulen, zweitens um dem Pferd Bewegungsideen und Bewegungsmuster zu vermitteln und drittens das Pferd in langsamer Kraft zu gymnastizieren und die Tragemuskulatur zu kräftigen.
Leider wurde nach der Definition eines gewissen sehr präsenten Reitverbandes der Schritt als schwunglose Gangart (weil keine Schwebephase) erklärt und fast völlig aus der Gymnastizierung des (Reit-)Pferdes verbannt. Es wird fragenden, zweifelnden, engagierten ReiterInnen sogar Angst gemacht, sie würden den Schritt des Pferdes kaputt reiten, wenn sie zu viel im Schritt reiten würden. Dementsprechend wird heutzutage in vielen Reitbahnen das Pferd im übereilten Schritt am durchhängenden Zügel „aufgewärmt“ und nach dem „richtigen Arbeiten in Trab und Galopp“ wieder am hängenden Zügel „trockengeritten“ mit dem Gedanken, dem Pferd damit etwas Gutes zu tun.
Nun besagter Reitverband hat so manche Definitionen, die mit altklassischen Vorbildern oder mit biomechanischen Fakten nichts zu tun haben. So ist physiologisch und bewegungsmechanisch gesehen der Schritt die Gangart mit am meisten dreidimensionaler Bewegung im Pferderücken bzw. im gesamten Pferdekörper – diese Bewegungen könnte man auch als „Schwung“ bezeichnen, wenn man als bewusste Reiterin fühlt und beobachtet, was da im Pferdekörper alles in sämtliche Richtungen schwingt, aber halt eben ohne Schwebephase mit immer mindestens zwei Pferdebeinen auf dem Boden. Und genau dieser Bodenkontakt ist es der den Schritt gymnastisch so wertvoll für die Kräftigung der Rumpftragemuskulatur macht – das Pferd muss im Schritt stemmen und die Widerristheber in Aktion bringen (vorausgesetzt das Pferd wird im Schritt nicht über Tempo ins falsch verstandene Vorwärts getrieben und gerät damit in einen schädlichen passartigen Gang und es schlurft auch nicht dahin). Im konzentriert gerittenen Schritt haben wir die perfekte Kombination von Kräftigung und Geschmeidigmachung des Pferdes. Das Pferd hat Zeit seine Beine zu sortieren und muss in langsamer Kraft arbeiten. Es wird also auch die Koordination und die Feinmotorik geschult. Diese Schrittarbeit darf nicht unterschätzt werden, es ist für Pferde sowohl körperlich als auch geistig sehr anstrengend. Pausen im Stehen mit Dehnenlassen und Nachfühlen sind wichtig und unverzichtbar.
Wie kann man nun ein Pferd so im Schritt reiten, dass es davon profitiert. Ganz wichtig ist ein wissender, fühlender Sitz, der das Pferd behutsam und dennoch entschlossen führt. Der ReiterIn muss zu jeder Zeit fühlen können, was welches Pferdebein gerade macht (das lernt und übt man am Besten im Schritt, denn durch die langsame Bewegung ohne Schwebephase haben wir viel mehr Zeit zum Hinfühlen bei jedem Schritt).
Die Sekundärhilfen (Einwirkung mit Hand und Beinen) dürfen sich niemals widersprechen, es wird also niemals mit der Hand eingewirkt, wenn der Reiterschenkel aktiv ist und umgekehrt „Hand ohne Beine – Beine ohne Hand“. Das Pferd wird in die Freiheit auf Ehrenwort entlassen – Stichwort Ablassen vom konstanten Einsatz der Hilfen.
Weiterhin wird in der Reitbahn nicht am hingegebenen Zügel geritten, sondern konzentriert, präzise und detailbewusst in den Hufschlagfiguren und den Seitengängen. Der Schritt soll aktiv und dennoch ruhig, weder eilig noch schlurfend sein. Im Schritt werden Übergänge geritten von langsam schreitend in fast diagonaler Schrittfolge bis zum Schritte verlängern, aber mit so viel Maß, damit das Pferd nicht in einen Schritt mit gestrecktem Hinterbein gerät (Gegenteil von Hankenbeugung – siehe mein Text zum Untertreten https://www.ganzheitliche-pferdegymnastik.de/.../50... ) und wieder zurücknehmen zum Zeitlupentempo in Erhabenheit. Der Schritt sollte sich für den Reiter erhaben anfühlen, man sollte fühlen, dass das Pferd sich selbst und den Reiter bewusst TRÄGT. Diese hochkonzentrierte Arbeit im Schritt führt uns auf direktem Wege zu Versammlung, Hankenbeugung und natürlicher Aufrichtung. Das Pferd muss seine Hinterbeine aktiv verwenden und gleichzeitig durch die zurückhaltende, bremsende Aktion der Vorhand die Widerristheber aktivieren. So lernt das Pferd verschleißarm und schonend das Reitergewicht zu tragen, sich auszubalancieren und ins Gleichgewicht zu kommen.
Gut gerittener Schritt ist also um es mit den momentan modernen Worten zu sagen -zwinker- Faszientraining, Sensomotoriktraining, Tensegrity-Training, Wirbelsäulenrotationstraining, Pferdeyoga, Schiefenkorrektur, Brainjogging, Weg aus der Trageerschöpfung, usw.
Meine Trainingseinheiten beginnen und enden immer mit dem konzentrierten, fast meditativem Reiten von präzisen Hufschlagfiguren und Seitengängen im Schritt. Dabei sind ständige Wechsel von einer Biegung in die andere wichtig, um das Pferd geschmeidig zu machen. Die Pferde profitieren körperlich und geistig-seelisch von dieser besonnenen, durchdachten Arbeit.
Das beigefügte Video von 2022 mit der Bilderserie dient nur als Beispiel, es zeigt meinen damals 33-jährigen Smokey, bei der konzentrierten Schrittgymnastik. Mit durchdachter, pferdegemäßer Gymnastik bleiben Pferde bis ins hohe Alter körperlich und geistig fit – und nicht zuletzt zufrieden und ausgeglichen.
Bitte dem folgenden Link zum öffentlichen Facebook-Beitrag folgen um zum Video zu gelangen:
Zum Weiterlesen empfehle ich Literatur bzw. Kurse, Videos usw. von:
Jean-Claude Racinet, Christin Krischke, Hofreitschule Bückeburg, Chris Debski, Sabine Oettel - Authentische Reitkunst , Sonja Weber, Anja Beran, Robert Stodulka, Philippe Karl, Bea Borelle, Bent Branderup, u.a.