94209 Regen, Karin Rupprecht

06. Hinterfragt - Wahrheit oder Mythos: Vorwärts-Abwärts

Wahrheit oder Mythos – Teil 4 tiefe Hals-Kopfhaltung und das Nacken-/Rückenband
 
Immer wieder sehe ich Pferde, die in der sog. Dehnungshaltung oder im sog. Vorwärts-Abwärts mit dem Genick deutlich unter Widerristhöhe (!!) über längere Strecken in der Reitbahn geritten werden. Diese Haltung soll angeblich für das Pferd gesund sein, da das Nacken-/Rückenband durch diese Kopf-Tief-Haltung das Gewicht der ReiterInnen mittragen würde.
Dazu möchte ich für alle verständlich und stark vereinfacht einige anatomische und biomechanische Fakten erörtern: das Nackenband besteht aus Nackenplatte und Nackenstrang. Der Nackenstrang setzt am Hinterhauptsbein des Kopfes an und führt bis zu den Dornfortsätzen des Widerrists, dort geht dieser in das Rückenband über, das wiederum am Kreuzbein befestigt ist. Der Einfachheit halber verwende ich im Folgenden den Begriff Nacken-/Rückenband.
Das Nacken-/Rückenband besteht aus straffem, sehnigen Bindegewebe und ermöglicht es dem Pferd, in der Haltung mit dem Kopf am Boden, (also beim Grasen, was Pferde naturgemäß etwa 18 Stunden am Tag tun) mit wenig Muskelkraft auszukommen. Das Nacken-Rückenband übernimmt in der Fressposition einen Teil des Gewichtes der Eingeweide sowie des Halses und Kopfes des Pferdes und spart damit Energie.
Nun gibt es seit einigen Jahrzehnten die Theorie das Nacken-/Rückenband würde das Reitergewicht auf gesunde Art und Weise (mit-)tragen, wenn man das Pferd in tiefer Kopf-/Halsposition reitet.
Ich sehe diese Annahme sehr kritisch. Gegen diese Theorie spricht erstens, dass die tiefe Kopf-Hals-Haltung (bei Pferden, die nicht darauf konditioniert wurden oder bis zur Erschöpfung geritten werden) nur im Stand bzw. sehr langsamen Schritt beim Grasen eingenommen wird und zweitens, dass kein zusätzliches Gewicht durch einen ReiterIn das Rückenband belastet. Inzwischen haben Studien u.a. der Universität Göttingen bewiesen, dass das Nacken-Rückenband nicht in der Lage ist zusätzliches Gewicht – schon gar nicht im Bereich der Brustwirbelsäule, also da wo der ReiterIn sitzt, zu übernehmen. Das Band fällt wortwörtlich einfach durch sobald Gewicht von oben kommt. Unter Belastung und dann auch noch in hohem Tempo ist das Nacken-Rückenband also nicht in der Lage physiologisch das Reitergewicht zu übernehmen. Gerittenwerden ist für Pferde nicht in der Natur vorgesehen, wir als ReiterInnen sind in der Pflicht unserem Pferd die richtige Haltung und die nötige Muskulatur für das Gerittenwerden nahezubringen.
Weshalb ist das so wichtig: durch ein falsch verstandenes und übertriebenes Reiten in Dehnungshaltung mit Genick unter Widerristhöhe werden die Dornfortsätze der Wirbelsäule besonders im Widerristbereich aufgefächert und nach unten gezogen, das Kreuzbein wird nach vorne gezogen das Becken kommt in Streckung, die Kruppe wird flach, die Hinterbeine treten nach hinten heraus. Die Brustwirbelsäule sinkt zwischen den Schulterblättern ab, der natürliche Stoßdämpfer für die Vorderbeine ist ausgeschaltet, jeder Stoß muss vom Fesseltrageapparat bzw. von den Zehengelenken aufgefangen werden. Folgen sind übermäßiger Verschleiß - die typischen Erkrankungen der Vordergliedmaßen sind Fesselträgerschäden, Entzündungen im Bereich des Hufrollenkomplexes sowie der tiefen und oberflächlichen Beugesehne, Verknöcherungen, Arthrosen, usw.
Die Hinterhand ist oft betroffen von Erkrankungen des Sehnenapparates der Zehengelenke, sowie der Sprung- und Kniegelenke, da durch das nach oben gezogene Kreuzbein die Federung durch diese Gelenke vermindert wird.
Direkt am Nacken-/Rückenband kommen durch diese Haltung und dem damit verbundenen unphysiologischem Zug ebenfalls Schäden zustande. Nicht selten sind Entzündungen der Schleimbeutel sowie Verkalkungen und Verknöcherungen an den Bandansätzen.
Deutlich wird das meistens durch diffuse Lahmheiten, unklaren Gang, Taktunreinheiten, mangelnde Losgelasseneheit sowie „Widersetzlichkeiten“ z.B. nicht am Genick anfassen lassen, sich nicht trensen lassen, sich nicht stellen/biegen lassen usw. Auch für die sog. Trageerschöpfung ist nicht selten übertriebenes Reiten in tiefer Kopf-Hals-Position ursächlich.
Oft sind die bereits entstandenen Schäden irreversibel, also unumkehrbar – es ist nur noch Schadensbegrenzung möglich.
Was ist die Lösung – am besten von Anfang an: pferdegerechte Ausbildung durch sinnvolle, durchdachte, kompetente Gymnastizierung und Muskelaufbau. Reiten des Pferdes im horizontalen Gleichgewicht, also Genick nicht tiefer als Widerristhöhe (!!) und behutsame Erarbeitung der Aufrichtung. Mit den Kräften des Pferdes gut haushalten: kurze Trainingseinheiten mit vielen Pausen. Dehnenlassen mit Genick unter Widerristhöhe und gerne auch Nase bis zum Boden nur im Stand oder im langsamen Schritt ohne Reitergewicht.
 
Ergänzung zu meinem Beitrag zum Reiten in tiefer Kopf-Halshaltung.
Wie immer vereinfacht und verständlich (ohne Fachbegriffe) erklärt, damit das Erklärte gut nachvollziehbar ist. Mein Ziel ist es, dass Ihr versteht und logisch nachvollziehen könnt weshalb dies oder jenes gut oder schlecht für Euer Pferd ist.
Wird das Pferd im sog. Vorwärts-Abwärts bzw. in der sog. Dehnungshaltung (mit dem Genick deutlich unter Widerristhöhe!!) geritten und zusätzlich die Stirn-Nasenlinie des Pferdekopfes hinter die Senkrechte gebracht -egal ob beabsichtigt (Gefügigmachen, Rollkur, LDR, Hyperflexion) oder unbeabsichtigt (z.B. durch harte Zügelhände, unbalancierten Sitz, „erlernte Hilflosigkeit“ usw.) verstärken sich logischerweise die negativen Auswirkungen der tiefen Kopf-Halshaltung massiv, da das Nacken-Rückenband erheblich überdehnt wird. Das Pferd kommt also noch mehr mit dem Gewicht auf die Vorhand, der Widerrist sinkt noch weiter ab, das Kreuzbein wird noch weiter nach vorne gezogen, die Hinterbeine treten noch weiter nach hinten heraus, die Ansätze des Nacken-Rückenbandes erleiden noch mehr Schäden durch Verkalkungen, Entzündungen, etc.
Zusätzlich zu diesen deutlichen gesundheitlichen Beeinträchtigungen wird durch die Kopfhaltung hinter der Senkrechten, der untere Halsmuskelbereich überspannt, besonders betroffen sind der Arm-Kopf-Muskel und die Zungenbeinmuskeln.
Die Ohrspeicheldrüse sowie Nerven- und Lymphbahnen werden gequetscht, sogar die Versorgung des Pferdegehirnes mit Nährstoffen und Sauerstoff wird beeinträchtigt.
Wird nun auch noch das Maul des Pferdes durch einen zu eng verschnallten Nasenriemen zugeschnürt (den Sperrriemen möchte ich gar nicht erwähnen), zeigen sich die negativen Auswirkungen noch deutlicher, weil zusätzlich das Kiefergelenk blockiert wird. Doch diese massiven körperlichen Schäden sind noch nicht alles, das Pferd wird nachhaltig in seiner Psyche verletzt…. durch die eingerollte Kopf-Halsposition wird das Pferd in seinem Sichtfeld eingeschränkt, es ist dem Reiter(in) hilflos ausgeliefert, weil es seine Umwelt nicht mehr pferdegemäß wahrnehmen kann und völlig handlungsunfähig wird. Das Pferd wird dadurch fügsam gemacht, es ergibt sich in sein Schicksal, jegliche Gegenwehr bleibt aus. In der Psychologie wird von erlernter Hilflosigkeit gesprochen, eine Form der Depression, die in völlige Resignation und Selbstaufgabe führt. (Wenn Ihr Euch damit genauer auseinandersetzten wollt, bemüht bitte die Suchfunktion - es gibt viele lesenswerte Artikel über die sog. erlernte Hilflosigkeit.)
Bitte überlegt Euch liebe Reiterinnen und Reiter – wollt Ihr ein Pferd, das funktioniert wie eine willenlose Maschine und dabei körperlich und seelisch zu Grunde geht oder wollt Ihr ein Pferd, das ein selbstdenkender Partner an Eurer Seite ist und durch pferdegerechtes Training und Reiten möglichst lange gesund an Körper, Geist und Seele bleibt.
Kurz noch ein bisschen was Geschichtliches zum Einrollen des Pferdehalses:
bereits in den vergangenen Jahrhunderten wurde diese Methode verwendet um Pferde gefügig zu machen und in die völlige Gewalt des Reiters zu bringen. Bekanntester Verfechter der damaligen Rollkur war Paul Plinzner (ja richtig gelesen: genau der Plinzner, der Gustav Steinbrechts „Gymnasium des Pferdes“ vervollständigt und veröffentlicht hat). Man nannte das Einrollen des Pferdes damals umgangsprachlich sogar „Plinznern“.
Auch Francois Baucher verwendet in seiner ersten Methode die sog. übertriebene Beizäumung als Mittel um das Pferd „in die Hand des Reiters“ zu zwingen. In seiner zweiten Methode verwirft er dies allerdings größtenteils wieder und geht zum durchdachten getrennten Einsatz der Hilfen über (vgl. Francois Baucher "Das neue System vom Reiten und Ausbilden" und die Schriften von Faverot de Kerbrech, Boisgilbert Jean-Charles Dubois, Louis Joseph Gabriel Rul und Alexis L´Hotte). Auch bei den Altklassikern war das Einrollen bekannt, selbst der Schlaufzügel war mitunter ein Mittel um den Kopf des Pferdes in Position zu zwingen, meistens seitlich eingerollt mit dem Schlaufzügel am Kappzaum (William Cavendish Duke of Newcastle, Manoel Carlos de Andrade und viele andere).
Nichtsdestotrotz sind die Werke aller genannten Reitmeister absolut lesenswert - wenn auch mit so manchem Vorbehalt.
Früher war also nicht alles besser, auch wenn manche das meinen wollen. Tatsache ist trotzdem, dass seit einigen Jahrzehnten viele Pferde auf ein schlankeres Erscheinungsbild gezüchtet werden, das Bindegewebe ist deutlich weicher als bei Pferden „vom alten Schlag“ traditioneller Rassen. Das weichere Bindegewebe macht das Einrollen des Halses für das Pferd noch schädlicher. Auch vom Nervenkostüm her werden die Pferde immer sensibler gezüchtet, was die psychischen Schäden durch das Einrollen noch schlimmer macht.
Also halten wir fest: früher war auch nicht alles besser. Dennoch: bei den heutigen bewiesenen Erkenntnissen um das Einrollen des Pferdehalses sollte dies meiner Meinung nach aus Tierschutzgründen verboten sein.
Jeder der sein Pferd liebt, sollte sein Pferd vernünftig reiten, sich selbst stetig weiterbilden und damit seinem Pferd mehr und mehr gerecht werden. Die Pferde danken es uns mit Gesundheit, Arbeitseifer, Kooperationsbereitschaft und sooooo vielem mehr. Wir Menschen sind in der Pflicht den Bedürfnissen unseres Pferdes gerecht zu werden - das Pferd ist uns nichts, wirklich gar nichts schuldig.